Die Illusion von Teilhabe

Ein Raumbildalbum über den ‚Anschluss‘ Österreichs

Für einige mögen sie zur Kindheit dazugehört haben: kleine brillenartige Spielzeuge, in die man Scheiben einlegen konnte, um die darin eingefügten Bilder dreidimensional sehen zu können. Mit dem Klick eines Hebels sprang die Drehscheibe weiter und die nächste Ansicht enthüllte sich in scheinbarer dreidimensionaler Tiefe. Nicht für Kinder zur Bespaßung, sondern für Erwachsene zur propagandistischen Überzeugung hingegen ist unser Fundstück dieses Monats gedacht: ein Raumbildalbum mit dem Titel „Großdeutschlands Wiedergeburt“, erschienen 1938.

Von außen wirkt das Objekt wie ein Buch mit ungewöhnlich massivem Einband. Darin befinden sich nach einem ‚Geleitwort‘ Hermann Görings 77 Seiten einer propagandistisch verfälschten Erzählung über die politische Entwicklung Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg, die Rolle der österreichischen NSDAP hin zum ‚Anschluss‘ 1938: Im März dieses Jahres hatten die deutschen und österreichischen Nationalsozialisten die Angliederung Österreichs ans Deutsche Reich betrieben, indem sie die vorherige Regierung zum Rücktritt gezwungen, deutsche Wehrmachtstruppen in Österreich stationiert und entsprechende Gesetze erlassen hatten.

Die Besonderheit des Buchs liegt hingegen in den Buchdeckeln: In eingefügten Fächern sind breite Fotostreifen, sog. Stereofotos, zu finden, auf denen das gleiche Motiv in leicht abgewandelten Winkeln zweifach abgebildet ist. Diese erzeugen beim Blick durch eine beiliegende Brille (einen Stereobetrachter) im richtigen Abstand einen dreidimensionalen Effekt. Dafür werden die Fotos in eine ausklappbare Schiene vor den Brillengläsern eingelegt. Stereoskopische Aufnahmen wie in diesem Buch existierten seit Mitte des 19. Jahrhunderts, aber sie erfuhren im Nationalsozialismus neue Beliebtheit.

Die Motive der Aufnahmen im Buch sind dabei vielfältig: Auftritte von NS-Größen wie Hitler oder Göring wechseln sich ab mit Aufnahmen von Veranstaltungen wie einem SA-Marsch, einer Maifeier oder Kundgebungen. Hinzu kommen Aufnahmen von Sehenswürdigkeiten wie der Hofburg in Wien und Ansichten österreichischer Städte. Die Fotos wurden von Heinrich Hoffmann aufgenommen, der als Hitlers Fotograf bekannt geworden ist. Auch für seinen beruflichen Weg spielte der Anschluss Österreichs eine Rolle: Er eröffnete im Herbst 1938 ein Atelier in Wien.

Ein ‚Geleitwort‘ Görings, Porträts von Hitler und Göring auf den ersten Seiten, ein einseitig auf das NS-Weltbild zugeschnittener Bericht über die Geschichte Österreichs und die Auswahl der Stereobilder – diese Gestaltung zeigt den hohen propagandistischen Wert, die dem Buch beigemessen wurde. So konnten Bürger*innen zu einer Zeit, in der Reisen noch kein Massenphänomen war, das Gefühl erhalten, an den ‚großen Ereignissen der Zeit‘ teilhaben zu können. Zugleich erhielt die aggressive Expansionspolitik des NS-Regimes eine rückblickende Rechtfertigung.

Raumbildalbum mit Stereofotos und Stereobetrachter (© Villa ten Hompel)