Die Kategorie Gender / Geschlecht ist in mehrfacher Hinsicht essenziell für ein multikausales Verständnis: Zum einen in Hinblick auf die nationalsozialistische Rassenideologie, die in Massenverbrechen und Genoziden kulminierte. Zum anderen hinsichtlich der alltäglichen Lebensverhältnisse während des Nationalsozialismus sowohl im Deutschen Reich als auch im besetzten Europa sowie der Handlungsräume von Menschen verschiedenen Geschlechts in sehr unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Settings. In Bezug auf Erinnerungsnarrative, die oftmals stark über stereotype Rollenbilder strukturiert und konstruiert waren und noch immer sind, gewinnt die Genderperspektive über 1945 hinaus weiter an Bedeutung.

Im August 2023 ist in einem US-amerikanisch-deutschen Projekt der internationale Sammelband „Polizei und Holocaust. Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men“ erschienen, herausgegeben von Thomas Köhler und Peter Römer seitens des Geschichtsorts Villa ten Hompel Münster, Jürgen Matthäus vom United States Holocaust Memorial Museum Washington D.C. und Thomas Pegelow Kaplan von der University of Colorado, Boulder. Im Buch setzen sich die Autor*innen mit neuesten Analysezugängen und Perspektiven auseinander. Die Beiträge behandeln einige Schlüsselaspekte der gegenwärtigen Nationalsozialismus- und Holocaustforschung mit einem speziellen Fokus auf die moderne Täterforschung: Ursachen und Erscheinungsformen genozidaler Gewalt im europäischen Kontext, Visualisierungen und Medialisierungen des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs, die Bedeutung von Genderperspektiven etwa zum Thema sexualisierte Gewalt oder Liebesbeziehungen. Letztgenannter Analysezugriff findet sich allerdings nur in einzelnen Beiträgen, wodurch nicht explizit einer immer noch verbreiteten Marginalisierung entgegenarbeitet wird.

Um dieses Desiderat einzulösen, möchte sich diese zweitägige Tagung im kollegialen Austausch dezidiert mit Genderperspektiven auf Nationalsozialismus und Holocaust beschäftigen.

Die einzelnen Tagungsschwerpunkte setzen sich mit Handlungsräumen, Verzeitlichungen und Gender auseinander: von Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen im Holocaust über sexualisierte Ausbeutung als NS-Herrschaftspraxis sowie kommunale Ausgrenzungspraktiken und ‚verleugnete Verfolgte‘ bis hin zu Gendertradierungen in familiärer, transgenerationaler und transnationaler Kontexten. Gerahmt wird die Tagung durch eine Keynote von Elizabeth Harvey (Nottingham) zu geschlechterhistorischen Zugängen zum Thema und ein öffentliches Abendgespräch mit Elissa Mailänder (Paris) zur Alltagsgeschichte der Intimität und Partnerschaft im Nationalsozialismus.

Die Tagung wird am 21. und 22. März 2024 in Münster stattfinden. Tagungsort ist der Geschichtsort Villa ten Hompel mit einer Teilnehmendenkapazität von 70 Personen. Das öffentliche Abendgespräch findet im Erbdrostenhof in Münsters Altstadt statt.

Es wird eine Tagungsgebühr in Höhe von 25 € erhoben, in der die Verpflegung inkludiert ist.

Die Anmeldung erfolgt bis zum 31. Januar 2024 über vth-tagung@stadt-muenster.de. Die Anmeldung gilt erst nach einer Rückbestätigung als verbindlich. Hotelempfehlungen erhalten Sie mit der Teilnahmebestätigung.

Tagungskonzeption: Karolin Baumann, Annina Hofferberth, Thomas Köhler

 In Kooperation mit der University of Colorado, Boulder, und dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte Münster

Die Tagung wird gefördert von: Sparkasse Münsterland Ost, Förderverein der Villa ten Hompel, United States Holocaust Memorial Museum Washington D.C.

Tag 1 (9:30-21:00 Uhr)

  1. Begrüßung / Einführung

Thomas Köhler, Geschichtsort Villa ten Hompel

  1. Keynote

Elizabeth Harvey (Nottingham): Geschlechterhistorische Zugänge zum Thema sexualisierter Erniedrigung und Gewalt während des Holocaust: Fragen, Kategorien, Quellen

  1. Panel 1: Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen im Holocaust
  1. Marta Havryshko (Worcester, Massachusetts): War against Women’s bodies. Sexual violence during the Holocaust in Ukraine
  • Florian Zabransky (Bonn): Agency and Vulnerability: Conceptualising Male Jewish Intimacy during the Holocaust

Moderation: Isabel Heinemann, Universität Bayreuth

  1. Panel 2: Sexualisierte Ausbeutung als NS-Herrschaftspraxis
  1. Sarah Frenking (Erfurt): „Frankreich. Zentrale des internationalen Mädchenhandels“. Prostitution, Mobilität und die polizeiliche Bekämpfung der ‚Unterwelt‘, 1933–1945
  • Robert Sommer (Berlin): Lagerbordelle. Sex-Zwangsarbeit als integraler Bestandteil der Geschichte der NS-Konzentrationslager

Moderation: Naomi Roth, Geschichtsort Villa ten Hompel

Gesprächsabend (Erbdrostenhof):

Thomas Pegelow-Kaplan (Boulder, Colorado) im Gespräch mit Elissa Mailänder (Paris) zu Thesen ihres Buches „Amour, mariage, sexualité. Une histoire intime du nazisme (1930–1950)“, Paris 2021:

Liebe, Ehe, Sexualität: Eine Alltagsgeschichte der Intimität und Partnerschaft im Nationalsozialismus (1930–1950)

Begrüßung: Stefan Querl, Leiter des Geschichtsorts Villa ten Hompel

Grußwort: Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe

Tag 2 (09:00-15:30 Uhr)

  • Panel 3: Kommunale Ausgrenzungspraktiken und die ‚verleugneten Verfolgten‘
  1. Verena Meier (Heidelberg): Intersektionale Perspektiven auf die Verfolgungspraktiken von Sinti*zze und Rom*nja bei der Magdeburger Kriminalpolizei und dessen Nachwirkungen in der SBZ/DDR
  • Timo Nahler (Bad Arolsen): Das Gesundheitsamt Münster und die Verfolgung von als ‚asozial‘ stigmatisierten Personen

Moderation: Karolin Baumann, Geschichtsort Villa ten Hompel

  • Panel 4: Gendertradierungen – familiär, transgenerational, transnational
  1. Iris Wachsmuth (Berlin): Doing gender in der Tradierungsforschung zum NS
  • Julia Noah Munier (Stuttgart): Sexualisierte Deutungsmuster von Nationalsozialismus und italienischem Faschismus als erinnerungskulturelle Praktiken der Subjektivierung

Moderation: Annina Hofferberth, Geschichtsort Villa ten Hompel

  • Tagungskommentar und Abschluss

Julia Paulus, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

Ritual der Männlichkeit: Polizisten des Bataillons 305 bei einem inszenierten Trinkgelage (© Villa ten Hompel)
Frauen und Kinder bei einer Massenerschießung durch Polizisten (r.) in Lubny (© Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung)