Vor kurzem ist der internationale Sammelband „Polizei und Holocaust“ erschienen – ein Vierteljahrhundert nach Christopher Brownings Pionierstudie “Ordinary Men. Reserve Police Bataillon 101 and the Final Solution in Poland” und vier Jahre nach einer Tagung zur NS-Tätergeschichte und deren Vermittlung in Münster. Die Tagung war die größte, die der Geschichtsort bisher organisiert hat. Ausgangspunkt war Christopher Brownings wirkungsmächtige Arbeit, die die Frage danach stellte, was ‚ganz normale Männer‘ im Holocaust zu Massenmördern und Mordgehilfen werden ließ.
Zur Tagung entstand ein Sammelband, denn die Tagung erwies sich als sehr ertragreich und die englischsprachige Festschrift zu Brownings 75. Geburtstag, die am Festabend der Tagung überreicht wurde, zeigte auch noch offene Fragen in der Forschung auf: Browning habe wichtige Pionierarbeit geleistet, so Peter Römer, Mitherausgeber des Sammelbands, „aber ein Vierteljahrhundert später zeigt sich, an welchen Stellen auch noch wichtige Aspekte zu ergänzen sind. Es braucht zusätzliche Diskussionen, z.B. zur Geschlechtergeschichte, die in seinem Werk nur am Rand vorkommen. Deswegen finde ich den Untertitel ‚Eine Generation nach Christopher Brownings Ordinary Men‘ auch so treffend.“ Auch Stefan Querl, Leiter der Villa ten Hompel, hebt die Bedeutung des Bandes für die zukünftige wissenschaftliche und pädagogische Arbeit im Geschichtsort hervor und dankte allen Beteiligten für ihre äußerst engagierte Arbeit.
„Wichtig war uns, dass der Sammelband nicht bei der deutschen Perspektive stehen bleibt, sondern internationale Debatten spiegelt“, ergänzt Thomas Köhler, ebenfalls Mitherausgeber und zweiter stellvertretender Leiter des Geschichtsorts. „Deswegen haben wir uns auch für ein deutsch-amerikanisches Herausgeberteam zusammen mit Thomas Pegelow Kaplan von der University of Chicago und Jürgen Matthäus vom United States Holocaust Memorial Museum Washington entschieden.“ Die internationale Vielschichtigkeit und Herausgeberschaft brachte eine angloamerikanische Wissenschaftstradition mit sich, die Widersprüche als konstruktive Kritik und wissenschaftliche Methode schätzt. Manche Beiträge nehmen auch nichtdeutsche Täterschaft und die Kollaboration in europäischen Ländern sowie aktuelle Ereignisse wie die Ermordung des schwarzen Amerikaners George Floyd, den Sturm aufs US-Kapitol oder Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland in den Blick. „Es ist unerwartet, dass es 80 Jahre später Bestrebungen beispielsweise der polnischen Regierung gibt, die Geschichtsnarrative jenseits wissenschaftlicher Belegbarkeit umzuschreiben. Gegen solche Tendenzen arbeiten die Beiträge des Sammelbands auch an“, so Köhler.
„Mit Autor*innen aus unterschiedlichen Ländern ist man als Herausgeber auch mit unterschiedlichen Wissenschaftslandschaften mit unterschiedlichen Traditionen konfrontiert“, führt Peter Römer weiter aus. Amos Goldberg positioniere sich in seinem Beitrag zum israelisch-palästinensischen Krieg der Narrative beispielsweise offensiv, während deutsche Forschende defensiver formuliert hätten. Deswegen entschieden sich die Herausgeber für einordnende Kapiteleinführungen und eine intensive redaktionelle Bearbeitung, die von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Annika Hartmann und Kathrin Schulte getragen wurde. „Es sollte ein Sammelband entstehen, der die Beiträge ins Gespräch miteinander bringt. Das setzte auch ein großes Vertrauen der Autor*innen in die lektorierende Arbeit voraus, die so nicht selbstverständlich ist“, betont Köhler.
Der Sammelband nimmt neben der historischen Perspektive auch Fragen der Vermittlung in Form von Ausstellungen, familiengeschichtlichen Recherchen und pädagogische Konzepte beispielsweise in Schulbüchern in den Blick. In seiner Arbeit in der Ausstellung fiel Peter Römer auf, dass die Sichtbarkeit von Täterperspektiven im Alltag heute selbstverständlich erscheint, doch: „Das ist sie nicht. Ohne die Täterforschung Anfang der 1990er Jahre sähe die Ausstellungslandschaft ganz anders aus.“
Der Sammelband richtet sich mit dieser inhaltlichen Schwerpunktsetzung nicht nur an Historiker*innen, sondern an eine breitere Lesendenschaft, wie Thomas Köhler ausführt: „Das ist auch möglich geworden dank der Förderung durch die Landeszentrale für politische Bildung NRW, das United States Holocaust Memorial Museum, die Appalachian State University und die Villa ten Hompel.“ Das Erscheinen des Buchs biete laut Thomas Köhler perspektivisch auch einen Blick in das nächste Jahr, in dem der Geschichtsort sein 25jähriges Bestehen feiern wird: „Mit dem Erscheinen des Buchs ist für uns dieses Kapitel nicht abgeschlossen, sondern nur ein weiterer Ausgangspunkt, um weiterzudenken.“ Deswegen plant die Villa ten Hompel für 2024 eine Tagung zu geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen zu Polizei, Nationalsozialismus und Holocaust.
Das Buch von Thomas Köhler, Jürgen Matthäus, Thomas Pegelow-Kaplan, Peter Römer (Hrsg.) „Polizei und Holocaust. Ein Vierteljahrhundert nach Christopher Brownings Ordinary Men“ ist 2023 Brill-Schöningh Verlag 2023 erschienen und über die regulären Buchhandlungen erhältlich.
